23.3.12


Umziehen. Im eigenen Haus. Das fünfte Mal in fünf Jahren jetzt. Ein guter Schnitt, immerhin fünf Mal Bücher sortiert, wieder entdeckt, verschlungen... manche.
Ich habe die Nase voll nun – mit Staub und Farbresten und neuen Düften. Balance nenn ich was anderes.

Der innere Umzug davor verlief qualvoll langsamer, in der letztendlichen Durchführung jedoch überraschend hoppla hopp und fertig. Er tut mir besser als der äußere, im Augenblick zumindest. Neue Räume wollen gefüllt sein mit Erinnerungen, Gerüchen, Spuren. Der anfängliche Mangel daran verwirrt mich immer wieder aufs Neue und schleudert mich in Atemlosigkeiten. Wurzeln treiben zwar schon, doch hängen sie noch etwas schüchtern in der Luft rum.
Heimat ist da noch nicht, aber der Zeiger auf der Wahrscheinlichkeitsuhr ist zumindest vorgerutscht auf „Möglich“. Das beruhigt.

3.3.12

Großvater - der Patriarch

Vater? Nicht da. Mutter lebte bei den Eltern, arbeitete in einer Fabrik in der Hanauer Landstraße, dort lernte sie meinen Vater kennen. Werkspion für die DDR. Zeugte mich und ging vor meiner Geburt in den Knast. Durfte mich nach drei Jahren Haft nur einmal kurz auf den Wiesen des Lohrberges sehen, da mein Großvater sich dazwischen schmiss und Zukunft für drei diktatorisch organisierte. Offizielle Version bis zur Volljährigkeit: Entweder ich war ne jungfräuliche Zeugung oder mein Vater sei tot. Graue Projektionsfläche vieler meiner verzweifelnden Kleinmädchenträume.
Mit 18 vom Jugendamt mitgeteilt bekommen, dass es meinen Vater lebend gibt und er seit meiner Geburt regelmäßig bezahlt. Ihn in der DDR besucht und festgestellt, ich habe dort noch sechs Halbgeschwister und Großeltern. Nach drei Monaten Aufenthalt beschlossen, dass der reale Sozialismus nicht mein Ding und einmaliges Ficken meiner Eltern für tragend liebende Blutsbande irgendwie nicht ausreicht.
Außer meinem Großvater, den ich ab sechs durch Krankheit und Tod meiner Oma verlassen musste, gab es keine weiteren männlichen Bezugspersonen in meinem Leben. Er dominiert bis heute in einer verquerten Weise mein Männerbild. Ansonsten nur: Starke Weiber, die Alltag organisierten und Überleben garantierten und schemenhaft dazugehörige Ehemänner, die in meiner Erinnerung nicht mal Gesichter oder eigene Stimmen haben.
Die tiefe Sehnsucht nach einem liebevoll fürsorglich fest haltenden und los lassenden Vater bestimmt bis heute prägend mein Innenleben und meine Beziehungsunfähigkeiten. Da ist viel Zorn in dieser Sehnsucht mit eingewoben, der Grundlage für einen meiner fest gemauerten Glaubenssätze ist: Jedes Kind hat ein Recht auf beide Elternteile, egal wie beschissen die Beziehung zwischen den beiden auch sein mag. Sie haben gefälligst eine dem Kindeswohl entsprechende Form des Umganges miteinander zu finden. Ein Verpissen aus Bequemlichkeit oder sonstigen, vorgeschobenen Gründen kann ich immer noch nicht akzeptieren und mit Geld/Unterhaltszahlungen ist es da auch nicht getan.
Vielleicht tue ich mich deshalb auch schon immer so schwer mit dem analytischen Fokus auf die Mutter-Kind-Beziehung. Nehmt endlich die Väter ins Visier. Die anwesenden und vor allem die nicht anwesenden spielen eine wesentliche Rolle im Seelendschungel der nachfolgenden Generation.
Ich verzeihe dem Vater und dem Großvater mittlerweile – vergeben fällt mir da noch schwerer.

2.3.12

Da mir in den letzten Monaten auffiel, dass sich etwas in mir vehement weigert, Jahreszahlen vernünftig zuzuordnen und erinnerte Ereignisse in eine sachlich chronologische Ordnung zu bringen, habe ich mir die Aufgabe gestellt, meine "Timeline" mal exakt anhand aller gefundenen Dokumente aufzudösseln. Der Widerstand in mir ist heftig - die Frage ist: Warum bloß?
Mag ich heute schreiben? Ich weiß noch nicht. Gestern Nacht hörte ich, dass Lucio Dalla gestorben sei. Morgens in Frankfurt hatte ich mir noch überlegt, sein Konzert hier zu besuchen und angefangen mich darauf zu freuen. Er steht auch für die Jahre in Italien. Genua, La Spezia, Roma - diese verrückt lebendige Zeit des Aufbruchs. Es macht mich traurig heute, schleudert mich in die Endlichkeit meines eigenen Lebens. Alt sein ist manchmal so blödblödblöd, weil es bedeutet so viele Abschiede zu nehmen. Könnten die nicht einfach auf mich warten. Gemeinsam gehen wäre einfacher. Welch ein Bild: All die Menschen in meiner Altersgruppe, die mir im Laufe des Lebens wichtig wurden, auf einer großen Party am Meer. Feuerspringen, singen, reden, tanzen, weinen, lachen... und dann zusammen gelassen und vergnügt den nächsten Weg gehen. Natürlich weiß mein Kopf um den Sinn dieses gestückelten, zeitversetzten  Gehens, doch meine Seele weigert sich vernünftig zu sein.

1.3.12

Heute den ganzen Tag in Frankfurt. Brunchen mit Sohn und dann Arbeitstreffen und bummeln.

Hier, in dieser Stadt liegt meine ganze Sehnsucht und mein tiefes Heimweh. Seit sechs Jahren bin ich schlichtweg am falschen Ort. Er läßt sich lindern, dieser Schmerz, mit umräumen, aufräumen, hektischem hin und her Gewusel, aber ich mache mir selbst etwas vor, wenn ich denke, er würde je verschwinden und ich könnte hier oder irgendwo anders jemals ankommen. Es läßt sich schwer vermitteln, aber dort ist Heimat für mich - so ganz tief innen drin.